Rohkost – wie viel darf es sein?

7. August 2022 von Esther Neumann und Martin Neumann

Im Sommer sind die Bauernmärkte eine wahre Augenweide, eine Fundgrube an frischem Obst und Gemüse. Ein Großteil der Bevölkerung verbindet mit rohem Obst und Gemüse eine gute Gesundheit. In der Praxis schaut es aber eher düster aus. Die meisten essen viel zu wenig rohes Obst und Gemüse. Auf der anderen Seite gibt es wiederum Menschen, die eine ausschließliche Rohkost mit nicht erhitzten Lebensmitteln befürworten. Andere vertreten eine mäßige Rohkost. Der Anteil kann zwischen 70-100% liegen.

Rohkost - wie viel darf es sein?

In den letzten hundert Jahren wurden zahlreiche Rohkostformen herausgearbeitet. Mehrheitlich stammen sie von Laien, die mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatten und sich durch eine Kostumstellung mit ausschließlicher oder teilweiser Rohkost kurieren konnten.

Rohkostarten

Den Rohkostformen liegen oft eigenwillige Ernährungskonzepte, die nicht wissenschaftlich erklärt werden, zugrunde. Manche vertreten eine sehr einseitige Form und lehnen bestimmte Lebensmittel einfach ab. Darum ist eine allgemeine Beurteilung der Rohkost sehr schwierig. Man muss sie individuell abwägen. Die meisten Rohkostarten werden nach ihren „Erfindern“ benannt: Eversdiät, Waerlandkost, Rohkost nach Walker, Dr. Nolfi, Schnitzer oder Wandmaker. Dann gibt es aber auch Fantasienamen wie Rainbow Diet, Hallelujah Diet oder Fit for life.

Die Mehrheit der Rohkostformen ist vegetarisch. Fast die Hälfte verzichtet ganz auf Fleisch. Einige erlauben rohes oder leicht geräuchertes Fleisch. Milch und Getreideprodukte haben meist kein gutes Ansehen. Eine hundertprozentige Rohkosternährung halten die meisten nicht sehr lange aus. Viele geben für den Abbruch der Kost soziale Gründe an wie etwa Isolation. Ein Drittel nennt gesundheitliche Gründe: Frieren, Probleme mit den Zähnen, Blähungen und Gewichtsverlust.

Körpergewicht bei langfristiger Rohkosternährung

Übergewicht ist bei den Rohköstlern unbekannt. Dreiviertel haben einen BMI im normalen Bereich. Es gibt keine Adipositas. Dafür finden sich auf der unteren Seite der Gewichtskurve eine Reihe von Untergewichtige, vor allem bei denen mit einem sehr hohen Rohkostanteil. Das Gewicht spielt bei den Rohköstlern eine untergeordnete Rolle. Es kommt ihnen mehr auf das Wohlbefinden an.

Das Untergewicht könnte wohl teilweise reduziert werden, wenn vermehrt Nüsse und Avocados, also fettreiche Lebensmittel gegessen würden. Wenn allerdings der Hauptanteil der Kalorien in Form von Fett verzehrt werden, dann braucht das komplizierte metabolische Reaktionen um dieses Fett in die richtige Energieform zu verwandeln. Das ist nicht ideal für unsere Gesundheit.

Bei den meisten Rohköstlern kommen die Kohlenhydrate und Eiweißstoffe zu kurz, nachdem Getreide und Hülsenfrüchte nur bedingt roh konsumiert werden kann. Rohes Getreide und Hülsenfrüchte beinhalten eine Reihe von Phytaten, die Blähungen verursachen und die Absorption einer Reihe von Mineralstoffen verhindern. Diese Phytate werden beim Kochen stark vermindert.

Eine andere Möglichkeit, Phytate zu reduzieren stellt das Keimen dar. Getreide und Hülsenfrüchte werden deshalb von Rohköstlern oft in gekeimter Form konsumiert. Beim Keimen werden außerdem die im Korn enthaltenen Vitamine potentialisiert, was Keimlinge eine interessante Ergänzung für unsere Diät machen. Werden sie aber in großen Mengen konsumiert, kann das zu einem Vitaminüberschuss führen.

Gekeimte Bohnen

Überzeugte Rohköstler

Meistens sind es gesundheitliche Gründe, die die Vertreter der Rohkost angeben, warum sie diese alternative Kost gewählt haben. Für andere spielt die Ethik eine Rolle oder der gute Geschmack der rohen Lebensmittel. Zwei Drittel sind der Überzeugung, dass beim Kochen eine Wertverminderung eintritt, ja sogar schädliche Produkte entstehen. Sehr oft werden die Verdauungsleukozytose und die Entstehung von Maillard-Produkten angeführt. Das sind Bräunungsprodukte, die beim Erhitzen von Lebensmitteln aus der Kombination von Zuckerarten und Aminosäuren entstehen.

Verdauungsleukozytose

Mit diesem Begriff wird die vorübergehende Zunahme von weißen Blutkörperchen, den Leukozyten, nach der Nahrungsaufnahme bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen physiologischen Zustand und nicht um den Hinweis auf eine Krankheit. Von Rohköstlern wird diese Zunahme immer wieder als Reaktion auf ungeeignete Lebensmittel angesehen. Der Grund liege in der Erhitzung der Nahrung. Ein Anstieg der Leukozyten bleibe aus, wenn man sich nur von Rohkost ernähre oder zumindest vor der gekochten Nahrung etwas Rohes esse.

Den medizinischen Hintergrund lieferte der Arzt Kouchakoff im Jahr 1930, der einen Anstieg der Leukozyten nach der Einnahme von gekochter Nahrung feststellte, aber keinen Anstieg bei ungekochten Lebensmitteln. Spätere genauere Untersuchungen zeigten, dass seine Beobachtungszeit viel zu kurz war und bei jeglicher Nahrungsaufnahme ein Anstieg der Leukozyten, vor allem der neutrophilen Granulozyten, stattfindet. Warum dieser Anstieg passiert, muss allerdings noch genauer erforscht werden. Vielleicht geht es einfach darum, mit der Nahrung eingeschleuste, möglicherweise krankmachende Keime zu bekämpfen.

Ein Lymphozyt, eine Untergruppe der Leukozyten im menschlichen Immunsystem.

Die von Kouchakoff herausgearbeitete These, dass erst durch das Kochen der Nahrungsmittel eine Leukozytose entsteht, hat sich als falsch herausgestellt. Die Leukozyten steigen nach dem Essen um 50-140%, egal ob die Lebensmittel gekocht oder roh gegessen werden. Interessant ist aber, dass bei den meisten Menschen nach einer Fleischnahrung der höchste Stand der Leukozyten verzeichnet wird.

Enzyme

Die Enzyme sind ein anderer Grund der sehr häufig von Rohköstlern als Vorteil von ihrer Diät angesehen wird. Die Rohkost solle lebende Enzyme beinhalten die beim Kochen verlorengehen. Deswegen seien Rohkostprodukte lebendige Nahrungsmittel, während gekochte Produkte schon tot seien und deswegen einen sehr geringen Nährwert darstellen.

Was sind Enzyme? Es sind chemische Strukturen die für eine Reihe von Stoffwechselfunktionen in unserem Körper lebenswichtig sind. Sie haben wichtige Funktionen in der Verdauung, in der weiteren Verstoffwechslung in dem Körper, in der DNA Replikation, in Signalisierungsmechanismus zwischen den Zellen und unzählbaren anderen Vorgängen innerhalb des Körpers.

Es ist also richtig, dass Rohkost eine Menge Enzyme enthält. Nachdem diese Enzyme aber weitgehend aus Proteinen bestehen, werden sie im Magen schon in Aminosäuren zerlegt und profitieren demnach dem Körper nicht. Manche Menschen brauchen Enzympräparate um in der Verdauung zu helfen. Diese müssen jedoch in speziell entwickelte Kapseln verpackt werden, welche resistent für die Magensäure sind und erst im Darm die Enzyme freigeben. Ohne diese Kapseln, würden die Verdauungsenzyme nicht im Darm ankommen. Die Enzyme die der Körper braucht, kann er normalerweise auch alle selbst herstellen.

Wenn es zu den Vitaminen kommt, dann ist allerdings die Rohkostdiät eine Nasenlänge voraus. Vitamine gehen weitgehend bei der Erhitzung verloren und finden sich normalerweise in rohen Proddukten in weit höheren Konzentrationen. Es gib allerdings auch hier wider Ausnahmen. Zum Beispiel hat ein im Dampf gedünsteter Kohl einen höheren Vitamin C Gehalt denn in roher Form, und das Betakarotin in Karotten kann in gekochter Form einfacher aufgenommen werden. Wenn man Gemüse kochen will, dann ist meistens ein vorsichtiges Dampfgaren die schonendste Vorbereitungsform.

Gemüse im Kochtopf mit Dampfgarer

Rohkost in der Krankenernährung

Die Ernährung ist ein Schlüsselfaktor in der Entstehung von chronischen Krankheiten und der Erhaltung der Gesundheit. Das hat die WHO bestätigt. Natürlich spielt die Lebensweise auch eine große Rolle. Neben Bewegungsarmut und Tabakkonsum wird die veränderte Ernährungsweise an erster Stelle genannt.

Die traditionelle pflanzenbetonte Ernährung wurde von einer kaloriendichten, fettreichen, mit einem hohen Anteil an tierischen Produkten versehenen Kost abgelöst. Ein geringer Verzehr an Obst und Gemüse und ein niedriger Ballaststoffanteil gehen Hand in Hand damit. In zahlreichen Entwicklungsländern, die ihre Lebens- und Ernährungsweise den Industrieländern anpassen, steigen genau jene Krankheiten, die mit diesem Lebensstil einhergehen: Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes, Krebs und Übergewicht.

Wen wundert es, dass alternative Ärzte vermehrt auf Rohkost setzen! Bei der Umstellung von einer typischen westlichen Diät bleibt auch der Erfolg nicht aus. Die Rohkost muss aber individuell angepasst werden, denn es gibt eine ganze Reihe Kontraindikationen. Und in den meisten Fällen würde wohl eine ausgewogene gesunde Ernährung, die ein wenig gekochte Körner beinhaltet zu einem besseren Ergebnis führen als eine restriktive Rohkostdiät.

Rohkost als Dauerernährung: ja oder nein?

Wie die Rohkoststudien zeigen, ist es nicht ganz einfach, sich ausschließlich von Rohkost zu ernähren. Vorübergehend mag es vielleicht Sinn machen, sei es um Gewicht zu verlieren oder seine Gesundheit wieder zu finden. Bei der Rohkost als Dauerform darf man sich keinesfalls einseitig ernähren. Man darf nicht willkürlich einige Lebensmittel meiden, die für eine ausgewogene Ernährung wichtig sind.

Wie hoch der Rohkostanteil in der Ernährung des Einzelnen sein soll, muss jeder selber entscheiden. Etwa die Hälfte als Rohkost zu verzehren, wie in der Vollwert-Ernährung empfohlen wird, ist sicher ein guter Weg. Es ist geschmacklich, sozial, wissenschaftlich und aus gesundheitlicher Sicht zu vertreten. Aber auch Kochen macht Sinn.

Salatteller mit Gedünsteten Broccolis und gekochten Quinoa

Wozu kochen?

Kochen tötet schädliche Mikroorganismen ab, zerstört schädliche Nahrungsinhaltsstoffe, etwa in Hülsenfrüchten, und erhöht die Aufnahmefähigkeit einiger Nährstoffe, z.B. Beta-Carotin. Kochen verändert die Konsistenz und den Geschmack. Kochen, Braten und Backen tragen zum Genusswert bei. Denken wir nur an die Kartoffeln! Kochen dient oft auch der Haltbarkeit, Lagerfähigkeit und der Bequemlichkeit. Aus vorgefertigten Menüs haben wir, ergänzt durch frische Rohkost, schnell einmal ein Essen auf dem Tisch.

Wie viel Rohkost dem Einzelnen guttut, muss jeder für sich entscheiden. Tatsache ist, dass die meisten wissen, dass sie mehr davon essen sollten. Wenn jemand die Menge steigern will, dann soll er es schrittweise tun und daran denken, gut zu kauen. Nur so kann sich auch der Verdauungstrakt an die geänderten Umstände anpassen.

Es liegen übrigens keine wissenschaftlichen Befunde vor – für eine bessere körperliche und geistige Leistungsfähigkeit des Rohköstlers gegenüber dem mit üblicher Mischkost Ernährten. Wenn sich aber jemand mit einer Rohkost wohler fühlt, soll er eine ausgewogene Art bevorzugen, die ihn auch optimal mit allem Lebensnotwendigen versorgt.

Esther Neumann

Esther Neumann

Esther Neumann studierte Ernährungswissenschaften auf der Universität Wien. Seitdem schrieb sie für viele Jahre für das Gesundheitsmagazin „Leben und Gesundheit“, und führte Gesundheitsvorträge in vielen Orten Österreichs durch.

www.ernaehrungaktuell.at/

Martin Neumann

Martin Neumann

Martin Neumann hat in 1998 in Wildwood Lifestyle Center & Hospital an einen Kurs für Gesundheitsberatung teilgenommen. Seitdem hat er rund um die Welt Vorträge und Kurse über gesunde Lebensweise und natürliche Heilmethoden gehalten. Er ist der Gründer von dem Abundant Health Netzwerk.


Ein Artikel von RundumGesund.org