Sind Obst und Gemüse nicht mehr so wertvoll wie vor 50 Jahren?
1. Oktober 2023 von Esther Neumann
Der Herbst hat uns die Vorratskammern wieder gefüllt. Die Kartoffeln sind eingelagert. Die Äpfel liegen in Reih und Glied in den Hurden. Krautköpfe wanderten ins Sauerkrautfass. Sellerie, Karotten und Rote Rüben warten auf den Verzehr. Alles versorgt uns im Winter mit Vitaminen und Mineralstoffen. Oder gibt es vielleicht doch zuwenig davon? Im Hinterkopf haben sich Werbeaussagen eingenistet: Unsere Nahrungsmittel versorgen uns nicht mehr mit genügend lebensnotwendigen Nährstoffen. Die Böden seien ausgelaugt, die Umweltbelastungen groß, die Lebensbedingungen ungünstig. Kann uns wirklich nur noch der Griff zu Pillen retten?
Wer seine Augen und seine Nase erfreuen will, gehe auf einen Obst und Gemüsemarkt. Besonders bunt und reichhaltig geht es da im Herbst zu. Für mich ist in Wien einer der liebsten Plätze der Naschmarkt. Was da nicht alles auf den Ständen aufgeschichtet ist! Man sollte mehr Geld in der Brieftasche haben!
Zwei Frauen unterhalten sich über das reiche Angebot. Wer weiss, ob es überhaupt noch Sinn macht, das schöne Geld für all dieses Obst und Gemüse auszugeben. Vielleicht schaut es nur noch schön aus und hält gar nicht, was es verspricht. Man bekommt so viel Werbung ins Haus geliefert, die uns weis machen will, dass wir alle an Vitamin- und Mineralstoffmangel leiden, weil in den Pflanzen lange nicht mehr das drin sei wie früher. Einmal habe ich sogar eine Tabelle gesehen mit einem Vergleich Inhaltsstoffe, heute und vor 50 Jahren. Heute ist viel weniger drin als früher.
Solche Werbungen verunsichern die Konsumenten. Es wird ihnen klar gemacht, dass nur noch der tägliche Griff zu Mineralstoff- und Vitaminpillen sie optimal versorgen könne. Es ist doch ganz klar: die Böden sind ausgelaugt, der Anbau in den Glashäusern ist nicht optimal, der saure Regen tut noch das seine. Aber Daten und Fakten, die wissenschaftlichen Methoden stand halten, gibt es kaum.
Neue Analysemethoden
Als Beweis wird der Vergleich von Tabellen herangezogen, die unsere Nahrungmittel von früher und heute vergleichen. Da sieht man dann etwa, dass heute viel weniger Carotin in den Karotten ist als früher. Warum das? Das können doch nur die ausgelaugten Böden sein. Tatsache ist aber, dass es ungefähr 600 verschieden Carotinoide gibt. Einige davon sind auch für uns Menschen wichtig als Vitamine oder Vorstufen von Vitaminen. Eigentlich produziert ja die Pflanze die Carotinoide für sich, für ihren eigenen Schutz. Überhaupt war der Nachweis vieler Inhaltsstoffe vor 50 Jahren noch gar nicht möglich. Es ist gar nicht so leicht, die einzelnen Inhaltsstoffe genau zu trennen und zu analysieren. Die Methoden werden aber immer besser und genauer. So kann man heute die vielen einzelnen Carotinoide bereits trennen. Früher hat man alle in einen Topf werfen müssen. Heute kann man sie unterscheiden. Da gibt es in der Tomate das Lycopin, im Mais das Lutein. Das Beta-Carotin ist das wichtigste für uns Menschen. Darum wird heute in den Tabellen oft nur noch dieses angegeben. Und vom Beta-Carotin ist natürlich weniger drin als von der gesamten Carotinmenge. Heute genauso wie früher.
Manche Vitamine haben eine ganz komplizierte chemische Struktur. Fehlt nur ein kleines Anhängsel, hat es nicht mehr die Wirkung eines aktiven Vitamins. Wegen den viel genaueren Analysemethoden, wird heute einiges nicht mehr als Vitamin anerkannt, was man früher als solches in die Tabellen aufgenommen hat.
Böden besser als ihr Ruf
Landschaftsökologen bestätigen, dass heute die Böden wieder besser versorgt sind als zur Zeit, wo man Dünger in rauen Mengen auf die Felder gestreut hat, nur um die Menge der Ernte zu erhöhen. Ausnahmen gibt es natürlich. Dort wo Fruchtfolge, Gründüngung und ein gezielter Einsatz an Düngemitteln betrieben wird, sind die Böden gut versorgt und damit auch die Pflanzen. Würden diesen gewisse Mineralstoffe fehlen, würden sie gar nicht erst wachsen und reif werden.
Nährstoffgehalt in den Pflanzen
Der Nährstoffgehalt in den Pflanzen ist nicht nur von der Bodenbeschaffenheit abhängig. Eine wichtige Rolle spielen auch die Wachstumsbedingungen wie Bewässerung, Sonneneinstrahlung, Temperatur und Erntezeitpunkt. Die Sortenwahl ist ganz wichtig. Neuere Apfelsorten haben oft viel mehr Vitamin C als alte Sorten. Sie wurden mit dieser Absicht gezüchtet. Wenn man alle diese Gründe berücksichtigt, so verwundert es einem nicht, dass zum Beispiel bei zwei Analysen von verschiedenen Paprikasorten es zu einer Differenz von 50 80% beim Vitamin C-Gehalt kommen kann.
Neue Lagertechnik
Grosswirtschaftliche Lagertechnik macht es möglich, dass Vitamine in Äpfeln lange erhalten bleiben. Lagerung in kontrollierter Atmosphäre heißt die Errungenschaft, die uns in den letzten Jahren auch noch im Frühling knackige, vitaminreiche Äpfel beschert. In diesen sogenannten CA-Lagern werden Reife und Stoffwechselvorgänge stark verlangsamt. Im Vergleich zu einem Kühllager ist im Frühling der Vitamin C-Gehalt in Äpfeln aus dem CA-Lager um 70% höher.
Mit der Auslieferung an den Handel endet aber diese Kontrollmöglichkeit. Die Verantwortung liegt nun beim Handel und beim Konsumenten. Wie wird die Ware weiter behandelt? Wie lange liegt sie in den Regalen herum? Wird sie direkt von der Sonne oder anderen Lichtquellen beschienen? Obst und Gemüse sollten eine frische Farbe haben und beim Anbrechen knackig sein. Regionale und saisonale Produkte sollten bevorzugt werden. Das heißt aber nicht, dass man nicht auch hin und wieder im Winter eine Tomate oder eine Ananas essen darf. Die Zubereitung spielt ebenfalls eine große Rolle. Lange Kochzeiten, Wegschütten von Kochwasser und langes Warmhalten verringern den Nährstoffgehalt deutlich.
Lebensstil
Wenn für Vitamin C geworben wird mit den Worten: Nie wieder Herzinfarkt ist das eine Irreführung. Und die Kasse einschlägiger Unternehmen stimmt. Es ist einfacher, eine Pille einzuwerfen als an seinem Lebensstil etwas zu ändern. Aber es ist nachgewiesen, dass nicht nur Vitamin C vor Herzinfarkt schützt, es ist auch der ganze Lebensstil. Fettreiche Ernährung, Bewegungsmangel und Rauchen sind genauso Killer wie Vitaminmangel.
Der ganze Apfel, nicht nur ein Teil
Die schützende Wirkung von pflanzlichen Lebensmitteln ist mehr als nur die Beschränkung auf Vitamine und Mineralstoffe. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen immer deutlicher, dass die Ergänzungseffekte der pflanzlichen Inhaltsstoffe unserer Gesundheit helfen. Wir brauchen den ganzen Apfel, nicht nur die Vitamine und Mineralstoffe. Manche sind unterversorgt wegen ihrer Obst- und Gemüseabstinenz und nicht wegen den ausgelaugten Böden. 650 g Obst und Gemüse täglich, kombiniert mit Vollgetreideprodukten und Nüssen, das ist das, was uns Ernährungsexperten empfehlen. Wieviel isst du davon jeden Tag?
Esther Neumann
Esther Neumann studierte Ernährungswissenschaften auf der Universität Wien. Seitdem schrieb sie für viele Jahre für das Gesundheitsmagazin „Leben und Gesundheit“, und führte Gesundheitsvorträge in vielen Orten Österreichs durch.
www.ernaehrungaktuell.at/
Ein Artikel von RundumGesund.org